Dunkle Stunden: Auschwitz

28. Januar 2019
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Gemeinsam mit einer Freundin waren wir in Krakau und haben von dort aus mit einem Tagesausflug die Konzentrationslager Auschwitz und Auschwitz-Birkenau besucht. Was es bei einer Besichtigung von Auschwitz heute noch zu sehen gibt und welche Gedanken und Gefühle das so los tritt ist schwer zu beschreiben. Ich versuche es trotzdem.

Weit und breit nur Stacheldraht

Ich habe lange überlegt, ob ich diesen Artikel veröffentlichen will, beziehungsweise ob ich ihn überhaupt schreiben will. Und ich habe mich lange davor gedrückt, obwohl das Gefühl schon eher zu Ja tendiert hat.

Nun war gestern der Tag, an dem sich die Befreiung von Auschwitz gejährt hat. Im Zuge dessen wurde viel gepostet, worunter ich etwas für mich sehr Passendes gelesen habe.

Die heutige Generation hat nichts mit den damaligen Gräueltaten zu tun. Wir sind nicht verantwortlich für das, was damals getan wurde. Für das, was unsere Großeltern oder Urgroßeltern getan haben. Oder das, wovor sie geflüchtet sind. Je nachdem, wie man eben damals situiert war.

Man kann sowieso darüber streiten, wer damals alles verantwortlich war. Es gab nicht nur Täter. Es gab auch eine ganz große Zahl an Menschen, die angeblich nichts wussten. Menschen, die weggesehen haben. Menschen, die geschwiegen haben. Darüber zu diskutieren, würde hier den Rahmen sprengen.

Aus heutiger Sicht können wir vielleicht viele Beweggründe nicht mehr nachvollziehen. Umso wichtiger ist es, dass eben nicht vergessen wird. Wir sind nicht mehr verantwortlich für die Taten von damals, aber wir sind dafür verantwortlich, dass sie nicht erneut passieren.

Und das geht nur, wenn man überhaupt noch weiß, was damals passiert ist. Im Spiegel habe ich dazu auch noch etwas erschreckendes gelesen: vier von zehn Schülern wissen nicht, wofür Auschwitz steht. Ich empfinde das als erschreckend und hoffe, dass das nicht nur mir so geht.

Wir gehören noch zu der Generation, die in der Schule sehr genau gelernt hat, was damals in Auschwitz passiert ist. Und ich für meinen Teil war auch an diesem Thema interessiert. Mit dem Geschichtsunterricht aus ganz alter Zeit konnte ich auch relativ wenig anfangen, aber „das hier“ war ja noch nicht so lange her, damit konnte ich etwas anfangen.

Ich habe mir auch über den Geschichtsunterricht hinaus viele Dokus angesehen, die mit der damaligen Zeit zu tun haben. Beispielsweise über geplante Attentate auf Hitler.

Ich habe versucht, mit meinen Großeltern über die Zeit zu sprechen, doch sie waren damals noch Kinder. Mit Urgroßeltern konnte ich leider nicht mehr sprechen, nachdem mein Interesse geweckt war. In der Schule gab es die Möglichkeit, mit ein paar Zeitzeugen zu sprechen, doch viele Zeitzeugen gab es schon damals nicht mehr. Und dieses „damals“ war vor 20 Jahren.

Wie viele Überlebende gibt es heute noch? Umso wichtiger ist es, dass nun Andere die Rolle übernehmen: zeigen was damals passiert ist.

Kein Horizont, nur Begrenzungen durch Stacheldraht

Dass unsere Tour nach Auschwitz nicht der fröhlichste Ausflug wird, das war uns schon im Vorfeld bewusst. Dass es sich aber auch heute noch dermaßen beklemmend und beängstigend anfühlt, das hätte ich nicht gedacht.

Als Jugendliche war ich mit der Schule in einem Konzentrationslager im Elsass in der Nähe von Colmar. Doch Auschwitz war noch eine ganze Nummer härter. Es macht also keinen Spaß, so etwas zu anzusehen und es macht auch keinen Spaß, so etwas zu zeigen. Aber es ist wichtig. Und deswegen mache ich das jetzt.

Auch wenn wir frei sind, wirken die Zäune beklemmend

Von Krakau aus fuhren wir mit dem Bus nach Auschwitz. Es werden haufenweise Touren angeboten, von denen wir uns vermeintlich die ausgesucht haben, bei der wir die meiste Zeit tatsächlich im Lager verbringen und uns dort nicht mit Führung sondern frei bewegen können.

Man findet Angebote überall in der Stadt, man kann aber auch ganz einfach jetzt und hier eine Tour buchen (Werbung: für eine Buchung über diesen Link erhalte ich eine kleine Provision, die mir beim Betreiben dieses Blogs hilft. Die Buchung ist dadurch nicht teurer, als wenn man direkt auf GetYour Guide geht).

In Krakau werden wir an einem Sammelpunkt von einem Bus abgeholt, der die Strecke nach Auschwitz in der angegebenen Zeit fährt. Geplant ist zuerst ein Besuch im Museum (Auschwitz I), doch als wir dort ankommen, ist der Parkplatz mehr als voll. Also entscheidet der Busfahrer, uns zuerst nach Birkenau zu fahren. Die Strecke ist kurz, nur ein paar Minuten sind wir noch unterwegs.

In Birkenau bekommen wir Tickets ausgehändigt und eine Abfahrtszeit des Busses mitgeteilt. Ab diesem Moment heißt es: los!

Wir haben ungefähr zwei Stunden Zeit für Birkenau. Im Nachhinein muss ich sagen, dass es gut und gerne noch eine Stunde mehr hätte sein dürfen. Wir haben zwar alles gesehen, mussten am Ende dann aber doch sehr zügig gehen und die Gegend rund um die Gaskammern selber wurde nur sehr kurz inspiziert.

Das Lager ist 171 Hektar groß, nur einen Bruchteil davon besichtigen wir wirklich. Es ist aber auch nicht nötig, jeden Quadratmeter zu sehen. Vieles ist nur noch als Ruine vorhanden und am Ende gleicht eine Baracke der anderen.

Ein Bild, was wir bereits sehr oft gesehen haben – Gleise führen ins Lager

Der Eingang in Birkenau ist sehr markant. Auf dem Foto haben wir ihn bereits durchschritten und blicken zurück in Richtung Ausgang.

Durch diesen Eingang fuhren immer wieder Züge mit neuen „Lieferungen“, zum Anderen marschierten die Arbeitstrupps unter hoher Bewachung durch das Tor zu ihren Einsatzorten. Auch heute wirkt dieses Gleis noch bedrohlich. Auch wenn Einiges demontiert wurde, das Gleis ist nach wie vor befahrbar.

In meinen Gedanken sehe ich sofort die Bilder, die mir aus den Dokus im Kopf geblieben sind. Warteschlangen bei der Registrierung, Frauen und Kinder. Gesichter voller Angst. Aber auch Gesichter, die keine Ahnung haben, was nun mit ihnen passieren wird. Menschen, die Koffer tragen und Wertgegenstände bei sich haben, die sie mit in ihr neues Leben nehmen wollten. Ich habe Bilder gesehen, auf denen Menschen beim Transport voller Hoffnung aussehen. Menschen, die miteinander lachen. Zum Lachen ist hier gar nichts.

Auch innerhalb des Lagers wurden die Bereiche mit Stacheldraht voneinander abgetrennt

Das Lager in Birkenau wurde im Herbst 1941 erbaut. Geplant war es eigentlich als Lager für sowjetische Kriegsgefangene, doch dann wurde es zur größten Vernichtungsstätte der Juden.

Im ersten Halbjahr 1942 wurde die sogenannte Judenfrage nicht mehr diskutiert. Es gab einen Plan, die sogenannte Endlösung. Zwei provisorische Gaskammern gingen Anfang 1942 an den Start, später gab es vier große Gaskammern mitsamt Krematorien. Häftlinge wurden also erst mit Gas getötet und später verbrannt.

Birkenau war das größte deutsche Konzentrationslager. Die größte Intensität an Transporten nach Auschwitz gab es ein knappes Jahr vor Kriegsende im Sommer 1944, zu diesem Zeitpunkt lebten in Birkenau ungefähr 90000 Häftlinge.

Sie waren unterschiedlicher Nationalitäten und auch unterschiedlicher „Rasse“, ungefähr 69000 davon waren Juden. Auch politische Gegner, mögliche Oppositionelle und sogenannte Zigeuner wurden hierher transportiert und getötet.

Viel deutlicher wird das Grauen, wenn man sich die Gesamtzahl der Opfer anschaut. Das Lager sollte 1944 vergrößert werden, damit 200000 Menschen hier untergebracht werden konnten. Nur teilweise wurden die Pläne umgesetzt, auf dem Gelände entstanden über 300 Objekte. Hauptsächlich handelte es sich hierbei um Holzbaracken. Davon stehen heute noch ein paar.

Die Holzbaracken, in denen die Menschen „gewohnt“ haben

Aus ganz Europa wurden Menschen mit Zügen hierher deportiert.

Effizientes Töten war die Hauptaufgabe des Lagers. Alleine im Lager Birkenau wurden gut 1,08 Millionen Menschen ermordet. Wenn man alle Aktionen und Lager in Auschwitz zusammen rechnet, kommt man auf 1,8 Millionen ermordeter Menschen. Das ist, als würde man heute einfach alle Einwohner Hamburgs auslöschen. Und Hamburg ist groß!

Das Tragische ist, dass man bei diesen Zahlen eigentlich nur einen Bruchteil aller Ermordeten nennt. Es handelt sich hierbei nur um die Menschen, die in den Lagern selbst getötet wurden. Alle, die beispielsweise beim Transport in den überfüllten Zügen gestorben sind, zählen nicht mit in diese Statistik.

Ein solcher Waggon steht heute noch auf den Gleisen im Lager. An ihm wird deutlich, wie menschenunwürdig damals transportiert wurde. Aber warum auch mit Würde transportieren, die Nazis sahen in den Juden ja keine Menschen. Menschen wurden in solche Waggons eingepfercht. Ohne Sitzplatz, eng zusammengepfercht im Stehen. Ohne Licht, ohne Wasser, ohne Heizung, ohne Lüftung. In stundenlangen Transporten.

Selbst aus der Türkei oder aus Westfrankreich wurden Menschen in Zügen hierher gebracht. Auch sie standen und versuchten, sich irgendwie übereinander zu stapeln, ohne dabei schon auf dem Transport zu sterben. Nicht wenige haben sich bereits auf den Transporten selber umgebracht. All die Anderen mussten dann gemeinsam mit den Leichen der Selbstmörder im Waggon aushalten.

Wie ein Viehtransport – Menschen wurden damit ins KZ gefahren

Wer hier im Lager ankam, musste zu einer Untersuchung antreten. Hier wurden gesunde arbeitsfähige Menschen von alten, schwachen und kranken Menschen getrennt.

Letztere schickte man sofort ohne Registrierung in den Tod. Auch Kinder wurden im Regelfall sofort in den Tod geschickt. Sie waren für die Nazis nutzlos.

Heute kann man den Ort der Registrierung ab dem Jahr 1943 schrittweise durchgehen, so wie es damals die Häftlinge auch tun mussten. Man nannte das Gebäude euphemistisch Zentralsauna.

Die als arbeitsfähig eingestuften Angekommenen wurden ihrer persönlichen Habe entledigt und desinfiziert. Die Haare wurden ihnen geschoren. Sie erhielten dann eine Lagernummer und Sträflingskleidung und wurden in die Baracken eingeteilt. Manchmal wurde hier noch eine zweite Selektion durchgeführt.

Wer nicht als arbeitsfähig eingestuft wurde, musste ebenfalls alle persönlichen Gegenstände abgeben und wurde ebenso geschoren. Und dann direkt in die Gaskammer geschickt.

Anfangs übernahmen Ärzte die Untersuchung, doch in der Zeit der meisten Deportationen musste der Prozess schneller gehen. Ein kurzer Blick von Ärzten oder sogar nur noch Wachpersonal genügte, und eine Entscheidung über Leben oder Tod war getroffen. Ich bin mir dabei nicht sicher, ob Leben oder Tod die bessere Wahl war.

Eingang in ein Abteil mit demontierten Baracken

Zuerst sehen wir uns rechts vom Eingang das Männerlager BIIa an, das als Quarantänelager galt.

Männer und Frauen wurden streng getrennt. Nur für Zigeuner gab es ein Familienlager, das jedoch deutlich kleiner war als die Lager für Männer oder Frauen. Männer mussten eine mehrwöchige Aufnahmequarantäne durchlaufen, deren Ziel es war, die Neuankömmlinge zu terrorisieren und an die im Lager geltenden Regeln anzupassen.

Die Baracken sind zwar nah aneinander, aber doch so weit voneinander entfernt, dass eine Interaktion der Häftlinge untereinander leicht unterbunden werden kann.

In den einzelnen Häusern leben die Männer eng aneinander gequetscht. Die Informationstafeln nennen Zahlen, die mit der Bettenanzahl nicht mal halbwegs übereinstimmt.

Wir rechnen aus, dass manchmal drei bis vier Männer sich ein Bett teilen mussten. Von Privatsphäre keine Spur. Keine Sitzmöglichkeiten, keine Möglichkeit sich aufzurichten. Drei Betten übereinander in Stockbettform. Ein Bett an das andere angereiht. Der Gedanke „immerhin gab es eine Heizung“ ist schon ziemlich makaber.

Eine Wohnbaracke im Männerbereich – an Privatsphäre ist nicht zu denken

Noch deutlicher wird der Mangel an Privatsphäre in der Latrinenbaracke. Wer aufs Klo muss sitzt hier Arsch an Arsch mit anderen Häftlingen. Kein Sichtschutz, keine abschließbaren Kabinen. Nur genug Platz für Wachpersonal, damit man selbst beim Verrichten seines Geschäfts noch schikaniert werden kann.

Nur wenige Zentimeter trennen die einzelnen Löcher der Latrine

Was uns sehr schnell auffällt ist der Geruch.

Auschwitz wurde im Januar 1945 befreit. Dass zum letzten Mal Menschen hier eingepfercht waren, ist also schon 74 Jahre her. Und immer noch kann man es riechen! Und nein, man riecht nicht das alte Holz.

Denn wir waren auch in einem Dorf, in dem sehr viele Häuser noch traditionell aus Holz gebaut werden. Altes Holz riecht nicht so. Was man hier immer noch riecht sind die Menschen! Ihren Schweiß, ihre Exkremente, ihre Angst.

Bereits der Anblick von Stacheldraht und den Baracken an sich ist beklemmend. Die Besichtigung der Latrine sorgt für ungläubiges Staunen. Wie konnte man nur so überleben? Die Besichtigung der Schlafbaracke lässt den Kopf schütteln und macht die Bilder im Kopf etwas lebendiger. Wie konnten Menschen zu so etwas fähig sein?

Doch am Schlimmsten ist der Geruch. Diese Erkenntnis, dass wir hier Menschen und ihre Gefühle riechen, schnürt die Kehle zu. Sie erzeugt einen Fluchtimpuls. Raus hier! Zumindest raus aus der Baracke selbst, am liebsten aber ganz weit weg.

Während unseres Besuchs war es hier relativ leer, was man auch an den Bildern gut sehen kann. Wir waren dort nicht eingepfercht mit vielen anderen Menschen. Es gab keine Aufseher, kein Wachpersonal, keine bellenden Wachhunde. Es standen nicht alle paar Meter bewaffnete Uniformierte, die uns gefährlich werden konnten. Und dennoch empfanden wir alle Drei diesen Impuls. Wir müssen aus diesen Häusern raus.

Allerdings haben wir uns gezwungen, den Gang bis zum Ende zu gehen. Einen Gang weiter zwischen den Barackenruinen von BIIb laufen wir wieder nach vorne.

Teile der Baracken wurden demontiert

Hier ist zwar der Weg etwas weniger beklemmend, weil durch die abgerissenen Baracken alles etwas weitläufiger ist – aber besser wird es dadurch nicht.

Man kann sich richtig vorstellen, welche Menschenmassen hier gehaust haben. Man kann sich auch die Soldaten dazwischen vorstellen, die Wachmänner mit den Hunden an der Leine und den geschulterten Gewehren. Wir werden immer stiller.

Kurz bevor wir wieder auf dem Hauptweg zum Eingang angekommen sind, spielen unsere Gedanken komplett verrückt. Um uns herum ist überall Stacheldraht, ein ständiger Begleiter. Der Ausgang zum Hauptweg ist erst zu sehen, als wir nah sind, da wir dazu durch einen kleinen Ganz im Zaun um die Ecke müssen. Aus etwas Entfernung sehen wir den Ausgang nicht. Und alleine das Fehlen eines nahen Ausgangs erzeugt eine Art Panik in uns. Wir sehen nur noch Stacheldraht um uns herum.

Wir sind nicht eingesperrt, aber in dem Moment fühlt es sich kurz so an. Wir sind freie Menschen, können uns gerade mit unseren deutschen Pässen sehr frei in der Welt bewegen. Das Alles ist uns bewusst und dennoch kriecht eine Angst in uns hoch.

Mich beschäftigt dabei noch ein anderer Gedanke.

Ich bin homosexuell. Ich bin mit meiner Frau verheiratet. So richtig, Standesamt, Kirche und alles was dazu gehört. Unsere Homosexualität ist demnach sozusagen amtlich beglaubigt.

Was ist, wenn es nochmal zu solchen Zeiten kommt?

Es wurden nicht nur Juden verfolgt und vernichtet. Es wurden Menschen mit Behinderungen jeglicher Art und Ausprägung deportiert. Menschen mit Sprachfehlern. Menschen mit unpassender Herkunft. Menschen ohne festen Wohnsitz. Menschen, die sich politisch engagiert haben oder in der Vergangenheit hatten. Menschen, die religiös und mit der Kirche verbunden waren. Menschen, die als intellektuell galten. Es reichte zum Beispiel, einfach Schriftsteller zu sein oder Maler. Menschen, die schon einmal eine Straftat verübt haben. Menschen, mit anderer sexueller Orientierung als Heterosexualität. Und damit fing alles an.

Und was machen wir, wenn so etwas noch einmal passiert? Wir sind als Erstes fällig. Wo gehen wir hin? Wo auf der Welt ist es überhaupt sicher für uns? Merken wir rechtzeitig, wann wir flüchten müssen?

Gerade angesichts der politischen Entwicklungen der letzten Jahre mit einem deutlichen Abdriften nach rechts sind diese Gedanken wichtiger und bedrohlicher als noch einige Jahre vorher. Arische Reinheit der Rasse und so weiter.

Ich gehöre da nicht dazu, und das gleich aus zwei Gründen. Mein Opa stammt aus dem Erzgebirge, der Region der Sudeten. Auch sie wurden damals verfolgt. Und ich bin homosexuell. Die aktuelle Entwicklung macht Angst, und das wird in diesem Moment sehr deutlich ins Bewusstsein gerückt. Umso wichtiger ist es, dass ich hier zeige, was passiert ist und wie das aussieht.

Die Gaskammern in Birkenau sind verfallen

Wir kommen wieder auf dem Weg an und gehen tiefer ins Lager in Richtung der Gaskammern. Diese sind in Birkenau nicht mehr betretbar. Es bestehen nur noch Ruinen. Diese dürfen auf Grund von Einsturzgefahr auch nicht näher betreten werden.

Macht nichts, wir brauchen sowieso eine Pause von diesem Geruch, der in der Luft liegt und von all den schrecklichen Gedanken. Doch noch stehen wir ganz hinten im Lager.

Dort ist auch eine Gedenkstätte, und an dieser hat sich gerade eine große Gruppe von jüdischen Besuchern versammelt. Ich würde tippen, dass es sich um mindestens drei Reisebusse gehandelt hat. Sie stehen alle im Kreis und summen und singen. Wir bekommen Gänsehaut und einen Klos im Hals. Zu einem besseren Zeitpunkt hätten wir nicht hier sein können.

Wir haben nicht mehr viel Zeit und beschließen, nun wieder zum Ausgang zu marschieren. Zeitgleich beschließt das auch die Reisegruppe. Und so marschieren wir mit schätzungsweise 300 Juden da entlang, wo vor vielen Jahren ausgemergelte Arbeitertrupps das Lager verließen und wieder betraten, bewacht von schwer bewaffneten Soldaten. Auch wir gehen mit hängenden Köpfen, aber wir sind frei.

Als wir wieder am Bus ankommen, merkt man auch den anderen Gästen die gedrückte Stimmung an. Und obwohl sich das alles so negativ anfühlt, muss man es gesehen haben!

Vielleicht muss man das wirklich selbst gespürt haben, einen Besuch empfehle ich Jedem. Einhergehend mit der Empfehlung, sich nach einem Besuch etwas Schönes anzusehen oder etwas Schönes zu unternehmen. Man wird etwas brauchen, bis man sich wieder gefangen hat.

Wir sind aber noch nicht am Ende angekommen. Wir schnaufen kurz durch und dann geht es weiter nach Auschwitz I in drei Kilometer Entfernung. Dort ist das Lager noch sehr gut erhalten und einige Räume sind heute als Museum zugänglich.

Hier ist alles etwas strenger als in Birkenau. Der Eintritt erfolgt mit Uhrzeittickets, dennoch steht man erst mal in Schlangen an und wird dann durchleuchtet. Größere Taschen darf man sowieso gar nicht mit rein nehmen, hierfür gibt es in kleinen Häuschen neben dem Eingang eine Aufbewahrungsmöglichkeit.

Es ist inzwischen Abend und obwohl wir uns auf der einen Seite gerade so gar nicht vorstellen können, etwas zu essen, haben wir auch Hunger. Es gibt zwei kleine Imbisse, aber dabei muss man schnell sein! Essen darf man nicht mit nach innen nehmen, was ich auch okay finde. Wir haben uns etwas zu essen geholt, standen dafür aber so lange an, dass unsere Zeit bereits aufgerufen wurde. Also das Essen in den Rucksäcken verstaut, diese abgegeben und grade noch so reingerutscht. Das Personal ist ziemlich unfreundlich.

Angesichts des Ortes ist das schon irgendwie nachvollziehbar. Gleichzeitig sind die hier ankommenden Menschen ja an der Historie interessiert. Es herrscht Befehlston. Zwischendurch frage ich mich, ob man das absichtlich so konzipiert hat. Sollen sich die Besucher hier möglichst nah an dem fühlen, was hier früher passiert ist?

Das berühmte Eingangstor des Lagers Auschwitz I

Kaum sind wir durch den Eingang, stehen wir an berühmter Stelle. Das „Arbeit macht frei“-Tor. Wie ironisch!

Hier wurden zwar alle zum Arbeiten gezwungen, die zum Arbeiten in der Lage waren, aber wen hat es bitte frei gemacht? Hier muss man ja schon fast den Tod als Erlösung sehen, zumindest war er der einzige Weg in die Freiheit. Sicher aber nicht die Freiheit, die man sich erhofft hat.

Auch Auschwitz I ist in Blöcke unterteilt, jedoch ist hier fast alles gemauert

Auch Auschwitz I ist in Blöcke unterteilt. Wer das Museum mit dem vorgeschlagenen Rundgang besucht, hat so ziemlich das komplette Lager durch.

Anfangs sind wir noch sehr genau. Wir studieren alte Listen, lesen alte Briefe, sehen Fotos und Gegenstände an. Hier sind noch Wertgegenstände gelagert, die Gefangene mit ins Lager gebracht hatten. Persönliche Gegenstände. Gegenstände von Menschen. Von Menschen, die ermordet wurden. Vasen, Ölgemälde, Silberbesteck.

Doch es wird schlimmer: Kleidung, Schuhe, Hüte. Und es wird noch schlimmer: Kinderschuhe. Spielzeug.

Hier sind einige Registrierungsbögen ausgestellt. Sehr genau werden allerlei Daten gesammelt und Eindrücke notiert. Selbst zur Form der Nase oder der Lippen gibt es eine Zeile. Dort steht dann „normal“, oder „Haken“. Auch zu politischer Vergangenheit und zu möglichen kriminellen Verbindungen gibt es Notizen. Die Zeile mit Straftaten wurde in der Regel mit „angeblich keine“ ausgefüllt. Hingegen findet man sehr häufig eine leere Zeile beim Unterbringungsgrund.

Es dauert nicht sehr lange und wir lesen nicht mehr alles. Zu bedrückend ist dieses Gefühl. In den meisten Räumen darf man nicht fotografieren. Das gilt insbesondere für den Raum, der am grausamsten ist. Selbst der Sammelgalgen wirkt dagegen eher harmlos, was ein Galgen natürlich nicht ist.

Auch der Galgen steht noch so wie damals

Hier liegen noch etwas mehr als zwei Tonnen Frauenhaar. Das muss man sich einmal vorstellen. Zwei Tonnen! Haar mannshoch über mehrere Quadratmeter. Dieses Haar war damals ein wertvoller Rohstoff, aus dem Industriefilz hergestellt wurde. Füßlinge für U-Bootbesatzung beispielsweise wurden daraus gemacht. Hinter Glas findet man heute einen Teppich aus hellem Frauenhaar.

Dieser Raum ist hier mit Abstand der Schlimmste. Wir wissen ja, wie das so aussieht, wenn wir beim Friseur waren. Wie viele Menschen hat man hier geschoren, um so viel Haar zu erhalten? Hinzu kommt das Wissen, dass es sich hier ja nur um die Haarreste handelt, die man bei der Befreiung in 298 Säcken gefunden hat. Fertig verpackt zum Transport in die Firmen, die Garn daraus fabrizierten.

Die Zäune sind noch massiver als in Birkenau

Auch in Auschwitz I sind die verschiedenen Bereiche massiv voneinander getrennt

Auschwitz I war ganz anders als Birkenau. Viel kleiner, viel enger. Nicht weniger bedrückend, aber ganz anders.

Die größte Gemeinsamkeit ist der allgegenwärtige Stacheldraht. Der größte Unterschied: in Auschwitz I sind die Gaskammern und Krematorien noch vorhanden.

Sie sind kaum als solche zu erkennen. Nur eine leichte Erhebung deutet darauf hin, dass hier eventuell noch etwas sein könnte. Eigentlich sagt uns nur unser Lageplan, dass hier irgendwo die Gaskammern sein müssen. Bis wir sie dann halb unterirdisch finden. Sichtgeschützt von den Baracken. So dass Niemand sieht, dass Keiner mehr heraus kommt, der dort hinein geht. Das ist also nicht nur ein Hügel, das ist eine Gaskammer und ein Krematorium in Einem!

Kaum zu erkennen – der Eingang in die Gaskammer

Die Wände sind schwarz vom Verbrennen der Leichen

Erst von der anderen Seite sieht man dem Gebäude an, was es war. Und das sogar sehr deutlich! Alles ist schwarz vom Ruß der Verbrennungen. In Auschwitz I gab es nur diese relativ kleine Anlage, und doch kamen hier ungefähr 60000 bis 70000 Menschen durch Zyklon B, Erschießungen, am Galgen und andere Gewalttaten um.

Im Museum findet man einige Material- und Bestelllisten für verschiedene Gifte. In der Anfangszeit wurde hier Gift noch injiziert, um Menschen zu töten. Die systematische Vernichtung kam erst mit den großen Gaskammern. Zuvor sind zum Beispiel Genickschüsse und das Erschlagen von Insassen dokumentiert.

Die Verbrennungsöfen in Auschwitz I

In den Gaskammern sind die Duschvorrichtungen demontiert, die Leitungen aber auf Putz sichtbar. Wer wirklich noch die Duschvorrichtungen sehen will, der muss nach Dachau fahren und sich das Vernichtungslager dort ansehen. Auch in Auschwitz findet man Kratzer in den Wänden, die Gaskammer selbst ist in Dachau aber eine ganze Nummer härter anzusehen. Uns reicht das hier allerdings auch!

Direkt aus der Gaskammer wurden die Leichen dann in das angeschlossene Krematorium gebracht. Dort gab es Vorrichtungen auf Schienen, die ein schnelles und für den Mitarbeiter gefahrloses Verbrennen der Toten möglich machten. Vorher wurden aber natürlich noch sämtliche noch vorhandenen Wertgegenstände entfernt. Vor Allem Zahngold ist hier zu nennen.

Wie abgebrüht muss man sein, um Jemanden in den Tod zu schicken, dann seinen Mundraum zu untersuchen und gegebenenfalls etwas daraus zu entfernen und denjenigen dann ins Feuer zu schmeißen?

Was waren das für Menschen, die hier standen? Wie konnten sie so etwas tun? Hatten sie überhaupt Skrupel?

Diese Fragen kann man uns heute wohl nicht mehr beantworten, obwohl es Namenslisten von ungefähr zehntausend SS-Mitarbeitern gibt, die mit Auschwitz zu tun hatten. Die letzten bekannten Täter wurden vor ein paar Jahren verurteilt und schwiegen hauptsächlich.

Der letzte Verurteilte war Reinhold Hanning. Nach dem Urteil ging sein Verteidiger in Revision. Hanning starb jedoch vor dem Ende des Prozesses, so dass sein Urteil nie rechtskräftig wurde. Auch Hanning hatte zunächst beharrlich geschwiegen, verlas dann aber eine persönliche Erklärung und bat um Entschuldigung. Ein Geständnis gab es allerdings nie. Da stellt sich mir die Frage: kann man so etwas überhaupt entschuldigen? Und noch viel mehr: kann man so etwas entschuldigen, wenn einer um Entschuldigung bittet, der seine Taten noch nicht einmal zugibt?

Unser Tag in Auschwitz hat uns nachhaltig beeindruckt, bei den Bildern bekomme ich auch jetzt – ein halbes Jahr später – noch Gänsehaut. Beim Schreiben fühle ich mich zurückversetzt.

Ich spüre den Schauer, der den Rücken hinunterläuft, ich spüre den Klos im Hals und ich habe diesen seltsamen Geschmack im Mund. Den Geschmack von Entsetzen, Schrecken und dem Zustand nah am Würgereiz. Ich rieche es fast wieder.

Ich hoffe, manch Einer kommt mit diesem Text und den Bildern zum Nachdenken. Ich hoffe, manch Einer sieht dies und hält inne. Ich hoffe, ich kann so manch Einen dazu bewegen, sich ein eigenes Bild zu machen. Und ich hoffe, ich kann damit aufstehen und Stop schreien! Zu so etwas darf es nie wieder kommen, und das liegt in unserer Hand.

An all Jene, die sich zusammen rotten und gegen die bösen Ausländer schimpfen, gar auf die Straße gehen und wie gefordert handeln:

Ja, wir haben Probleme in Deutschland. Gesellschaftliche Probleme, Probleme mit Armut, Probleme mit der Rente.

Diese Probleme kommen aber nicht von den Ausländern, die in Deutschland Schutz suchen! Schweden beispielsweise hat eine viel größere Zahl an Geflüchteten aufgenommen, wenn man die Zahl in Relation zur Einwohnerzahl setzt.

Im ersten Halbjahr 2018 haben in Deutschland rund 78000 Menschen einen Asylantrag gestellt. Das ist eine verschwindend geringe Zahl, gemessen an der Einwohnerzahl Deutschlands. Einige davon werden Deutschland auch wieder verlassen müssen, weil sie die Bedingungen nicht erfüllen. Das gibt beispielsweise für Flüchtlinge aus den Balkanstaaten.

Es gibt Regionen, die sehr stark in die rechte Ecke gedriftet sind, und dort gibt es sicher mehr gesellschaftliche Probleme als in den Regionen, in denen das nicht der Fall ist. Und gleichzeitig gibt es in den selben Regionen eine Vielzahl unbesetzter Ausbildungs- und Arbeitsplätze.

Bevor du also schreist „der Ausländer nimmt mir meine Arbeit weg“, komm von deinem hohen Ross herunter, schau was es für offene Stellen gibt, überleg dir welche du dir vorstellen kannst und geh arbeiten! Es gibt in Deutschland mehr offene Stellen als Arbeitslose! Es gibt in vielen Bereichen zu wenig Fachkräfte. Wir brauchen diese Ausländer sogar, weil du diesen Job ja gar nicht machen willst! Denk einfach darüber nach. Und wenn du damit fertig bist, denkst du noch einmal darüber nach, was ich oben bereits erwähnt habe.

Hast du einen hohen Schulabschluss, möglicherweise noch mit einer eher außergewöhnlichen Fächerkombination, vielleicht ein spezielles Studium absolviert? Dann bist du für so ein System gefährlich und in großer Gefahr und kannst zu den Ersten gehören, die deportiert werden würden.

Hast du aber vielleicht gar keinen Schulabschluss? Dann bist du für das System nicht brauchbar, kannst also zu den Ersten gehören, die deportiert werden.

Kommen deine Großeltern oder Urgroßeltern möglicherweise gar nicht aus Deutschland, oder aus sogenannten minderwertigen Regionen? Dann könntest du zu den Ersten gehören, die deportiert werden würden.

Hattest du vielleicht einmal eine größere Verletzung beim Sport, die eine große Narbe hinterlassen hat, so wie bei einem Kreuzbandriss? Dann ist deine Arbeitsleistung in Gefahr und somit auch dein Status. Du könntest zu den Ersten gehören, die vernichtet werden.

Hast du vielleicht in deiner Familie einen Menschen mit einer Beeinträchtigung? Jemanden mit einer Lähmung oder psychischen Störung? Dann bist du automatisch mitgefangen. Du könntest zu den Ersten gehören!

Glaubst du an Gott oder an eine andere übernatürliche Macht? Auch das war damals ein Grund und könnte heute wieder einer sein. Möglicherweise würdest zu zuerst abtransportiert werden.

Oder hast du vielleicht schon einmal eine Straftat begangen? Dann kannst du dich bereits auf den Transport vorbereiten.

Was ich damit sagen will: so gut wie JEDER von uns könnte betroffen sein. Deswegen wehr dich gegen soziale Ungerechtigkeit nicht mit hohlen Parolen, die keinen Halt haben. Suche die Ursache deiner Situation, und zwar etwas detaillierter als du es bisher getan hast.

Schau dir das hier an! Schau, was aus solchen Parolen bereits entstanden ist! Damals waren die Juden schuld und heute sind es die Flüchtlinge. Das ist kein bisschen anders. Es ist zum Glück noch nicht so weit wie damals. Sorg dafür, dass es nicht dazu kommt! Schau dir das an und mach es anders!

 

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