Brüssel – bunter Schmelztiegel oder düstere Gefahr?

15. Januar 2018
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Es ist nun schon beinahe ein Jahr her, dass wir in Brüssel waren, und doch habe ich bisher nur einen Artikel über die Street Art in der Stadt geschrieben. Wirklich bemerkenswerte StreetArt, quer über ganze Fassaden und von berühmten Künstlern. Insbesondere die Comic Strip Route hat mich sehr fasziniert und wir sind einige Kilometer zu Fuß unterwegs gewesen, um viele der Kunstwerke begutachten zu können. Doch Brüssel hat noch viel mehr zu bieten.

Bruxelles. Das wollte ich schon immer mal schreiben. In Brüssel spricht man französisch, und auf französisch heißt die Stadt eben Bruxelles, was man dann wiederum nahezu gleich ausspricht wie im Deutschen. In Brüssel spricht man aber nicht nur französisch, denn Brüssel ist ein Melting Pot, und das auch noch auf verschiedenen Ebenen.

Zum Einen ist Brüssel die Hauptstadt Belgiens der Sitz des Königshauses. Das alleine sorgt schon für eine Vielzahl an Konsulaten und Botschaften, internationalen Flair. Gleichzeitig befinden sich in Brüssel der Hauptsitz der Europäischen Union und auch der Nato. Wir haben also unheimlich viele Beschäftigte aus vielen verschiedenen Nationen in der belgischen Hauptstadt und mit den Institutionen verbunden auch eine Vielzahl an futuristisch aussehenden Gebäuden, an mondänen Palästen und verspiegelten Fronten.

Rund um den Flughafen wirkt alles noch relativ schäbig, auch der Flughafen selbst wirkt eher uncharmant und verstaubt. Im März 2016 fanden dort am Flughafen und zeitgleich auch in der Innenstadt größere Attentate statt, und auch bei unserer Ankunft ein Jahr später war der Flughafen voll mit Sicherheitskräften, die mit Maschinenpistolen bewaffnet waren. Wir hatten das schon noch ein wenig im Hinterkopf, als wir hier landeten, wirklich präsent wurde es aber erst wieder durch die Sicherheitsvorkehrungen, die so etwas zukünftig verhindern sollen. Wir sind aber nicht zimperlich und verlassen trotzdem mit gespannter Vorfreude den Flughafen. Mit dem Bus geht es in Richtung City, und wir landen erst mal im modernen Europaviertel, wo uns der Bus wieder ausspuckt. Die Fassaden sehen toll aus, aber auch unpersönlich und kalt. Und dann fahren da die Militärfahrzeuge Patrouille. Gepanzerte Jeeps und auch ein Panzer selbst steht dort. Wir schießen ein paar Fotos der Fassaden und dann geht es mit der Ubahn weiter ins Zentrum. Wir hoffen, dass unser Eindruck von Brüssel nicht so bleibt, wie der erste ist.

Im Zentrum angekommen wirkt alles sofort ganz anders! Am Grand-Place und auch rundherum fühlen wir uns direkt wie in einer anderen Welt. Als hätte es diese Jeeps und Maschinenpistolen nicht gegeben. Plötzlich wirkt Brüssel offen und multikulturell. Verspielt und individuell. Ein bisschen verschroben vielleicht, aber liebenswert. Alles ist verziert, mit Säulen, Fresken, Gold. Die Verzierungen sind so intensiv, dass das Auge Probleme hat, alles zu erfassen. Jede Fassade hat ihren eigenen Schmuck, alles leicht versetzt und doch glänzt es überall. Alles wirkt bedeutungsvoll und prächtig, historisch und einnehmend. Und so gewinnt uns Brüssel innerhalb von Minuten.

Wir schlendern durch die kleinen Gassen rund um den Platz – große Gebiete hier sind Fußgängerzone. Das Zentrum der Stadt ist voll mit kleinen Läden, alle drei Meter eine neue Tür, ein neues Schaufenster. Das meiste sind kleine Boutiquen und natürlich Chocolaterien. Gefühlt ist jedes zweite Schaufenster voll mit Pralinen.

Wer an Belgien denkt, der denkt an Schokolade. Und an Bier. An Waffeln. Und vielleicht noch Pommes. Und alles gibt es hier zur Genüge! Wir haben keinen wirklichen Plan, wollen uns erst mal treiben lassen und besuchen zunächst das Schokoladenmuseum. Dort sind wir Zuschauer bei der Herstellung von Pralinen von Hand und dürfen diese dann auch verkosten. Mit Humor und vor Allem ganz viel Liebe zum Handwerk werden hier Pralinen gefertigt. Natürlich ist es ein Geschäft und soll die Touristen bespaßen, aber man spürt die Leidenschaft für die Sache. Im Anschluss erfahren wir in den übrigen Räumen noch allerlei über die Geschichte von Kakao, über Herkunft und Einfuhr und alte Zubereitungsmöglichkeiten.

Vor unserem Trip haben wir uns vorgenommen, alle Varianten der belgischen Waffeln zu probieren, die uns über den Weg laufen. Ich muss vorweg nehmen, dass uns das nicht mal ansatzweise gelungen ist. An jedem Stand gab es mindestens zehn verschiedene Varianten, teilweise auch über zwanzig Möglichkeiten, seine Waffel zu kredenzen. Mit oder ohne Sahne, mit verschiedenem Obst, verschiedenen Soßen und Schokoladen, mit Zucker oder Zimt oder Beidem. Man meint vielleicht, dass so eine Waffel ja klein ist und eher ein Snack nebenbei. Doch das können wir entschieden verneinen. Eine belgische Waffel -vor Allem wenn sie mit Früchten und Sahne gereicht wird- ist wirklich gehaltvoll und macht vor Allem pappsatt. Und egal was man sich vorgenommen hat, eine zweite Waffel ist einfach ein Ding der Unmöglichkeit.

Belgisches Bier war uns schon bekannt, mir mehr als Carina, da ich bereits in Aachen und Lüttich Berührungspunkte hatte und mich generell mehr für Bier interessiere als Carina. Belgische Biere gehören weltweit zu den sortenreichsten und in Belgien gibt es eine nach wie vor eine sehr hohe Anzahl an Brauereien. Rund 100 Brauereien brauen insgesamt ungefähr 1000 verschiedene Biersorten. Um das Jahr 1900 gab es noch über 3000 Brauereien im Land, doch auf Grund von Facharbeitermangel gab es schon Anfang des 20. Jarhhunderts einen enormen Rückgang. Der zweite Weltkrieg führte dann zu einer Reduzierung auf gut 750 Brauereien. Wir besuchten in Brüssel auch ein kleines Brauereimuseum, das allerdings keine neuen Erkenntnisse brachte. Ist aber wahrscheinlich auch schwer bei Jemandem, der schon mehrere Brauereien besucht hat. Spannend finde ich in Belgien vor Allem die besonderen Arten, die es andernorts nicht gibt, zum Beispiel das Trappistenbier. Bier wird in Belgien nicht streng nach Reinheitsgebot gebraut und kann auch Zutaten wie Kirschen, Honig oder Senf enthalten. Das ermöglicht natürlich viel mehr Vielfalt als die in Deutschland übliche Brauart. Alle Sorten in einer Woche zu probieren ist schlicht unmöglich, wir haben es aber doch auf einige verschiedene geschafft, insbesondere dank einer speziellen Methode. Es gibt hier ein paar Bars, die Bier meterweise verkaufen. Und zwar verschiedene Biere in relativ kleinen Gläsern. Wenn man sich diesen Meter und alle darauf befindlichen Gläser teilt, dann ist die Gesamtmenge Bier gar nicht so tragisch und man konnte trotzdem viele unterschiedliche Geschmäcker testen. Einen wirklichen Favoriten haben wir nicht gefunden, aber auch kein absolutes NoGo-Bier.

Belgische Pommes hatten wir nur zwei Mal, hier muss man eigentlich vor Allem die Vielzahl an Soßen nennen. Ketchup oder Mayo? Nein, hier gibt es an jedem Stand haufenweise Soßen zur Auswahl, um die 20 verschiedene an jeder Bude. Ungefähr die Hälfte der Belgier geht ein mal pro Woche zu einer Frittenbude, aktuell versucht man, belgische Pommes zum Weltkulturerbe zu machen. Die Besonderheit ist, dass belgische Pommes zwei mal frittiert werden. Erst mit ca 130 Grad, dadurch werden sie innen gar. Dann etwas heißer, damit sie außen knusprig werden. Unsere Pommes mit zwei verschiedenen Soßen sind eine Wohltat nach all den süßen Waffeln! Einmal wollen wir uns abends Pommes holen, doch die Schlange der Wartenden ist bestimmt 30 Meter lang. So weichen wir auf das Burger-Restaurant Manhattn’s Burgers direkt nebenan aus und entdecken dabei richtig leckere selbst gemachte Limonaden und absolut gigantische Burger! Sie sind so lecker, dass wir ein paar Tage später noch ein zweites Mal kommen.

Natürlich muss noch der Männeken Pis erwähnt werden. Er gilt als Wahrzeichen der Stadt und um ihn ist ein richtiges Gedränge. Männeken Pis ist ziemlich klein, erstaunlich klein sogar. Selbst wenn man weiß, dass es keine immens große Statue ist, ist man trotzdem von der Miniaturgröße überrascht. Es erschließt sich uns nicht, warum ganze Busladungen von Touristen – hauptsächlich Chinesen und Italiener – hierher gekarrt werden. Männeken Pis hat übrigens eine kleine Schwester und es gibt auch noch einen pinkelnden Hund. Diese Beiden sind nur wenig besucht. Wir waren bei der Schwester in einer kleinen Gasse und können sagen, dass sich auch das wirklich nicht lohnt. Viel spannender sind die auch rund um Männeken Pis befindlichen Street Art Werke. Wir kommen sogar zufällig ein zweites Mal am Männeken Pis vorbei, und da ist es tatsächlich ein bisschen toll, denn ein Unbekannter hat ihn verkleidet.

Wir schlendern durch die Stadt, finden sehr viele Einkaufsstraßen und noch mehr Galerien. Unzählige Nationen schlendern durch die Straßen. Alles wirkt ganz harmonisch. Brüssel ist so verspielt, verschnörkelt. Die Schaufenster der Läden sind liebevoll dekoriert. Und es gibt erstaunlich viele Comic-Läden. Immer wieder bleiben wir stehen und fotografieren, kleine Schilder, Laternen, besonders schöne Fassaden. Ich habe ja in der Vergangenheit schon Lüttich besucht, was mich lange davon abgehalten hat, weitere belgische Städte zu besuchen. Umso mehr bin ich jetzt positiv überrascht.

 

In Brüssels Innenstadt sieht man nichts von all dem, was man nach den Anschlägen in den Medien gehört hat. Belgien als Brutstätte des Dschihads, es gäbe viel zu viel Armut, sogar von der Polizei gemiedene Viertel hieß es damals. Besonders Molenbeek ist daher vielen Menschen ein Begriff. Wir meiden diesen Bezirk, kommen aber durch andere ärmere Bezirke, die etwas düsterer wirken als die Innenstadt. Unser Hotel ist am nördlichen Ende der Innenstadt. Der Bahnhof Brüssel Nord ist nah, von dort müssen wir nur noch ein paar Meter weiter nach Norden gehen. Nebenan noch überall Banken und Versicherungen, Glasfassaden. Direkt neben unserem Hotel eine Polizeistation. Doch genau bei unserem Hotel endet der Prunk. Weiter darf man nicht gehen, wenn man im „hübschen“ Bereich bleiben möchte. Hinter unserem Hotel sehen wir die dreckigen Fassaden, Dreck auf dem Boden, Mülltüten auf den Straßen. Die Betonblockhäuser mit ihren Durchgangsbalkonen wirken kalt und befremdlich, zumindest unangenehm. Ich empfinde es als ungewöhnlich, dass die Grenze sehr abrupt verläuft. Wir laufen trotzdem weiter nach Norden und steigen dort in die Straßenbahn. Wir wollen zum Atomium, und dorthin ist es vom Hotel aus am leichtesten mit der Tram. Diese fährt uns durch ein deutlich ärmeres Viertel. Hier sind die Häuser alt, dreckig und alles wirkt marode. Je weiter wir nach draußen kommen, desto mehr Kopftücher und Verschleierungen sehen wir. Vor Allem aber: desto mehr Menschen mit Löchern in Schuhen und Klamotten, ungewaschen, vom Leben gezeichnet. Hoffnungslosigkeit und der Weg dorthin.

Man kann sich richtig vorstellen wie das ist, wenn man in so ein Viertel geboren wird, dort aufwächst. Wenn die Armut so groß ist, dass man nur wenig Zugang zu Bildung hat, weil es nur Hoffnungslosigkeit und kaum Förderung gibt und vor Allem man die Armut so deutlich sieht, dass keine Chance auf Aufstieg vorhanden ist. Wenn selbst dein bestes Hemd einen angeschmierten Kragen und mindestens ein Loch hat, wird es schwer beim Bewerbungsgespräch. Falls du überhaupt eingeladen wirst, wenn du einen orientalischen Nachnamen hast. Wir sind froh, dass es uns besser geht. Irgendwie wird die Stimmung hier düster. Aber das ist Europa! Man hat natürlich schon Armut gesehen, aber  entweder bei Einzelschicksalen oder in der Ferne. Menschen die in Slums leben zum Beispiel, auf der Straße in Indien. Aber hier in Europa auf diese Weise? An einem Abend benutzen wir im Nordbahnhof den Ausgang, der direkt auf unser Hotel zuführt. Das haben wir ein mal gemacht und nie wieder. Die ganze Halle dorthin und der Weg im Bahnhof ist voll mit Menschen in Schlafsäcken, es stinkt nach Urin und Alkohol. Nach diesem Erlebnis nehmen wir immer den vielfrequentierten Hauptein- und ausgang, man fühlt sich sicherer, obwohl man auch beim anderen Ausgang nicht unsicher war. Ich muss betonen, dass wir völlig unbehelligt durch den Bahnhof und die angesprochene Passage kamen. Niemand hat uns irgendwie belästigt. Es ist eher ein inneres Problem, ein gefühltes. Man möchte so viel Elend nicht unbedingt sehen. Und doch gehört es eben zum Leben dazu.

Vom Bahnhof am Atomium aus habe ich noch einen Blick auf Heysel, ein Stadion mit trauriger Berühmtheit. Im Jahr 1985 kam es hier bei einem Europapokalfinale zwischen Liverpool und Juventus zu einer Massenpanik, 39 Menschen verloren ihr Leben und gut 450 wurden verletzt. Dennoch wurde die Partie damals mit Verspätung angepfiffen und gespielt. Das Stadion wurde danach kaum noch genutzt und 1994 umgebaut. Es ist aber ja trotzdem noch das Heysel-Stadion, der Platz einer der größten Katastrophen, die im Fußball passiert sind und die noch dazu in enger Verbindung mit dem von mir favorisierten Liverpool FC steht. Auch das heutige Stadion wirkt wie ein düsterer und unpersönlicher Betonklotz, als beherberge es die Trauer.

Am Atomium angekommen wirkt es dann wieder wie in einer anderen Welt. Parkanlagen, Blumen, Touristenmassen. Wir versuchen uns an künstlerischen Fotos. Es soll so aussehen, als würden wir Kugeln des Atomium in den Händen halten. Wir versagen absolut und machen dann eben ein paar normale Fotos. Im Atomium gibt es ein Museum und Ausstellungen und wir besuchen es natürlich auch von innen. Der Gedanke, sowohl in den Kugeln als auch in den Röhren spazieren zu gehen ist irgendwie witzig und ich mag ihn. Die Ausstellung ist passenderweise noch über eine ehemalige Fluglinie, also ein Reisethema. Besser kann es nicht sein.

Wir erfahren auch viel über das Atomium an sich, dass anlässlich einer Weltausstellung (heute Expo) dort errichtet wurde. Heute ist es ein Publikumsmagnet und in meinen Augen einfach eine recht spektakuläre Sehenswürdigkeit. Hier fahren wieder die Militärjeeps. Das fällt auf, weil ihre Motoren wahnsinnig laut sind. Ansonsten hätten wir es wohl kaum noch bemerkt.

Unser Fazit fällt positiv aus. Insgesamt waren wir sechs Tage in der Stadt und können sagen, dass auch fünf oder vier gereicht hätten. Wir haben die Altstadt mehrere Male besucht, viel in Läden und Galerien gestöbert und die Comic Strip Route abgelaufen. Es war ebenso genug Zeit, verschiedene regionale Spezilitäten zu probieren. Auch der Aspekt Sicherheit fällt nicht ins Gewicht, so lange man sich in der Innenstadt befindet. Dort ist Brüssel eine wunderbar bunte Mischung. Alte Fassaden, Genuss und Freude, eine gewisse Leichtigkeit liegt in der Luft. Die Stimmung wird anders, sobald man das Zentrum verlässt. Das bedeutet nicht, dass man deswegen sofort unsicher ist oder Angst haben muss. Selbst vom so in die Schlagzeilen geratenen Molenbeek habe ich auch schon viel Positives gelesen. Man spürt abseits des Zentrums aber sehr deutlich soziale Ungleichheit, was bedrückend wirkt. Dessen muss man sich bewusst sein, wenn man das Zentrum verlässt. Das überall präsente Militär bemerkt man schon sehr schnell kaum noch. Brüssel hat viel zu bieten, man sollte es sich von Horrornachrichten, die mit der Stadt in Verbindung stehen nicht vermiesen lassen.

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